Das Drama des begabten Kindes (Teil 2)
Beinahe alle Eltern träumen von einer besonderen Begabung ihres Kindes. Paul, meinen Ältesten, beobachtete ich mit Argusausgen. Glücklich registrierte ich jedes neue Wort, das er lernte. Zufrieden stellte ich fest, dass er sehr früh sehr gut sprach. Und platzte fast vor Stolz, als die Kinderärztin sein außergewöhnliches Sprachvermögen lobte.
Beinahe alle Eltern träumen von einer besonderen Begabung ihres Kindes. Paul, meinen Ältesten, beobachtete ich mit Argusausgen. Glücklich registrierte ich jedes neue Wort, das er lernte. Zufrieden stellte ich fest, dass er sehr früh sehr gut sprach. Und platzte fast vor Stolz, als die Kinderärztin sein außergewöhnliches Sprachvermögen lobte.
Doch hochbegabt war er nicht. Das
stellte ich spätestens mit seiner Einschulung fest. Als Paul
in die Schule kam, war er fest davon überzeugt, von nun an lesen und
rechnen zu können. Schließlich hatten ihm alle gesagt, dass er das
in der Schule lernen würde. Doch leider hatten alle versäumt zu
erwähnen, dass es mit Arbeit verbunden ist. Und man es nicht
automatisch kann, nur weil man jetzt eben nicht mehr in den
Kindergarten, sondern in ein Klassenzimmer ging. Seine Ambitionen, es
mit eigenen Anstrengungen doch noch zu erlernen, hielten sich in
Grenzen.
Und dann kam Felix. Unser
Zweitgeborener himmelte seinen Bruder an. Der nahm den Kleinen unter
seine Fittiche. Felix musste nichts selber machen, sondern lediglich
seinem Bruder folgen. Sein Sprachvermögen war derart unterentwickelt,
dass nur Eingeweihte ihn verstehen konnten. Machte aber nichts, Paul
übersetzte – selbst noch für seinen
vierjährigen Bruder.
Doch plötzlich fing Felix an zu reden.
Und hörte nicht mehr auf. Eines abends, er war vielleicht fünf
Jahre alt und befand sich mitten in einer Dino-Phase, erzählte er
Geschichten von Halticosaurus, Baronyx und Styracosaurus. Mit Tyrannosaurus rex oder Brachiosaurus hätte ich ja noch etwas
anfangen können – aber diese Namen hatte ich noch nie gehört. Ich
war skeptisch, ob irgendetwas davon stimmte. Also schlug ich nach.
Und musste feststellen, dass alles korrekt war. Ich war erschüttert.
Wann hatte Felix das aufgeschnappt?
Fortan fiel auf, dass Felix alles, was
er hörte, aufsog wie ein Schwamm. Und nie wieder vergaß. Nach einem
Zoobesuch kannte er alle Tiere und ihre Lebensgewohnheiten. Bücher
gab er beinahe buchstabengetreu wieder. Einmal in einem Museum
gewesen, konnte er anschließend alle Exponate mit Hintergrund
erklären. Fraglos eine Gnade. Und zugleich ein Fluch. Denn auch
Ungerechtigkeiten, die ihm wiederfahren, kann er jahrelang nicht
loslassen.
Fortsetzung folgt ...