Dienstag, 20. November 2012

Das Drama des begabten Kindes (Teil 1)

Das Drama des begabten Kindes (Teil 2)

Beinahe alle Eltern träumen von einer besonderen Begabung ihres Kindes. Paul, meinen Ältesten, beobachtete ich mit Argusausgen. Glücklich registrierte ich jedes neue Wort, das er lernte. Zufrieden stellte ich fest, dass er sehr früh sehr gut sprach. Und platzte fast vor Stolz, als die Kinderärztin sein außergewöhnliches Sprachvermögen lobte.

Doch hochbegabt war er nicht. Das stellte ich spätestens mit seiner Einschulung fest. Als Paul in die Schule kam, war er fest davon überzeugt, von nun an lesen und rechnen zu können. Schließlich hatten ihm alle gesagt, dass er das in der Schule lernen würde. Doch leider hatten alle versäumt zu erwähnen, dass es mit Arbeit verbunden ist. Und man es nicht automatisch kann, nur weil man jetzt eben nicht mehr in den Kindergarten, sondern in ein Klassenzimmer ging. Seine Ambitionen, es mit eigenen Anstrengungen doch noch zu erlernen, hielten sich in Grenzen.

Und dann kam Felix. Unser Zweitgeborener himmelte seinen Bruder an. Der nahm den Kleinen unter seine Fittiche. Felix musste nichts selber machen, sondern lediglich seinem Bruder folgen. Sein Sprachvermögen war derart unterentwickelt, dass nur Eingeweihte ihn verstehen konnten. Machte aber nichts, Paul übersetzte – selbst noch für seinen vierjährigen Bruder.

Doch plötzlich fing Felix an zu reden. Und hörte nicht mehr auf. Eines abends, er war vielleicht fünf Jahre alt und befand sich mitten in einer Dino-Phase, erzählte er Geschichten von Halticosaurus, Baronyx und Styracosaurus. Mit Tyrannosaurus rex oder Brachiosaurus hätte ich ja noch etwas anfangen können – aber diese Namen hatte ich noch nie gehört. Ich war skeptisch, ob irgendetwas davon stimmte. Also schlug ich nach. Und musste feststellen, dass alles korrekt war. Ich war erschüttert. Wann hatte Felix das aufgeschnappt?

Fortan fiel auf, dass Felix alles, was er hörte, aufsog wie ein Schwamm. Und nie wieder vergaß. Nach einem Zoobesuch kannte er alle Tiere und ihre Lebensgewohnheiten. Bücher gab er beinahe buchstabengetreu wieder. Einmal in einem Museum gewesen, konnte er anschließend alle Exponate mit Hintergrund erklären. Fraglos eine Gnade. Und zugleich ein Fluch. Denn auch Ungerechtigkeiten, die ihm wiederfahren, kann er jahrelang nicht loslassen.

Fortsetzung folgt ...