Freitag, 12. Oktober 2012

Der Fluch der Selbständigkeit

Die Schuhe. Wo sind nur wieder diese blöden Schuhe? Wo – in Gottes Namen – hat das Kind sie diesmal ausgezogen? Wir müssen los, Johann (2) zur Tagesmutter, ich habe einen dringenden Termin. An der Schaukel werde ich schließlich fündig. Wo denn auch sonst. Haben wahrscheinlich beim Klettern gestört...

Wenn man auf Johann aufpasst, drängt sich früher oder später unweigerlich der Vergleich mit dem Sack Flöhe auf. Schneller als man gucken kann, ist er in den Garten entwischt. Und sitzt im Schlafanzug mitten in der Sandkiste. Oder steht auf der Straße, weil die Haustür nicht abgeschlossen war. 

Die Selbständigkeit unseres Nachzüglers ist schon außergewöhnlich. Leider auch außergewöhnlich anstrengend. Keiner unserer Großen kam auch nur ansatzweise auf solche Ideen, wie ihr kleiner Bruder sie tagtäglich ausheckt. Dass zurzeit bei seiner Tagesmutter eine Grundsanierung stattfindet, macht das Ganze nicht einfacher. Breitbeining, mit angewinkelten Armen und einer Holzlatte in der Hand stapft er durch den Garten. Nimmt Maß, sägt, hämmert. „Ich Bauarbeiter.“ Hatte ich schon erwähnt, dass sein Sprachvermögen nicht im entferntesten an seine Motorik heranreicht?
Alles dient zum Klettern. Keine Leiter ist zu hoch, kein Baum zu steil, kein Stuhl zu wackelig – und Schubladen kann man prima herausziehen, um über diese Treppe auf die Arbeitsfläche der Küche zu gelangen. Meine Eltern haben etwas hochgelegt, damit ich nicht dran komme? Kein Problem, wozu gibt es Stühle? Oder Kisten. Diese umzudrehen, um dann draufzuklettern, wäre natürlich zu einfach. Auf dem schmalen Rand balancierend, wird das Objekt der Begierde geangelt.

Bei Johann hat es keinen Sinn, sich zu fragen, warum er etwas macht. Meist fällt einem eh nur die Antwort ein: Weil er es kann. Und die Großen – egal ob Eltern oder Brüder – es auch machen. Manche Seite meines Kalenders ist kaum mehr zu entziffern. Was nicht nur an der Fülle meiner Termine liegt. Vielmehr sah auch mein Jüngster sich bemüßigt, auf etlichen Seiten etwas einzutragen. Wände bemalt, Möbel bekritzelt – solche Erzählungen meiner Freundinnen konnte ich früher nicht fassen. Heute entlocken mir diese Tatsachen im eigenem Haus nur noch einen resignierten Seufzer.

Ich muss zugeben, oft fällt es uns verdammt schwer ernst zu bleiben und zu schimpfen. Vor allem, wenn dann wieder dieser charmante Blick von unten hoch folgt, der Kopf schief gelegt wird und ein fragendes „Nein?“ kommt. Nein! Manchmal frage ich, ob mich unser Nachzügler mit diesen Aktionen jung hält – oder doch schneller altern lässt.